Das Gut „Haus zur Mühlen“ hat eine bewegte Geschichte hinter sich, so auch nachzulesen über den QR-Code „Neufassung Schuy Erzählung von 1929“, veröffentlicht auf der Homepage der Bürgergemeinschaft Siegburg-Kaldauen. Zu den zahlreichen Ereignissen dort im Laufe der Jahrhunderte zählt auch ein Kriminalfall, der sich im Jahre 1902 ereignete und große Wellen schlug.

Die Ritterherrlichkeit war schon lange vorbei, das Gut befand sich im Eigentum der Fürsten von Salm-Horstmar. Otto II., Fürst zu Salm-Horstmar (*1867; † 1941) war ein deutscher Standesherr und rechter Politiker, ein exponierter Vertreter der antijüdischen Politik bis zu seinem Tod im Jahre 1941. Er verpachtete 1902 Haus zur Mühlen an Johann Ludwig Courth, 42 Jahre alt, wie seine Ehefrau Margarethe aus Zündorf am Rhein stammend. Der Pächter war ein großer, stattlicher Mann mit blondem Bart, Sohn vermögender Eltern, die am Rhein ein Gut besaßen. Sie ermöglichten ihm eine gute Schulbildung, im Jahre 1881 absolvierte er beim dritten Westfälischen Infanterieregiment zu Köln eine militärische Ausbildung als Freiwilliger. Nach seiner Entlassung sammelte er auf dem elterlichen Gut weitere Erfahrungen, insbesondere in der Ackerwirtschaft. Ein Bauer durch und durch also. Im Alter von 31 Jahren heiratete Courth Margarethe Geilenberg. Zunächst lebte das Paar glücklich und zufrieden – in ihrer zehn Jahre andauernden Ehe wurden ihnen fünf Kinder geschenkt, das jüngste war beim gewaltsamen Tod seiner Mutter erst neun Monate alt – doch bald kam es zu ernsten Spannungen. Wegen „des unverträglichen Charakters der jungen Frau“, so eine Notiz  in den Prozessakten, kam es zu tiefen Zerwürfnissen mit der Folge, dass die junge Frau „ihrem Gatten entlief“, so der Protokollführer im Gerichtsverfahren. Die Situation wurde nicht einfacher, als der Pächter im Jahre 1894 gewahr wurde, dass es seine Frau mit der Treue nicht so genau nahm und ihn mit einem Angestellten des Hauses betrügt. Herr Courth stellte seine Gattin zur Rede, die allerdings unerwartet reagierte. Sie verließ die eheliche Wohnung und zog mit ihrem Liebhaber nach Siegburg. Frau Courth verließ aber bald das Liebesnest und flüchtete zu ihren Eltern nach Zündorf. Die Eltern ermahnten ihre Tochter an ihr Eheversprechen und informierten ihren Schwiegersohn über den Aufenthaltsort seiner Ehefrau. Der ließ schnell die hauseigene Kutsche anspannen und machte sich auf den Weg an den Rhein. Die Ehegatten versöhnten sich wieder, kehrten gemeinsam nach Haus zur Mühlen zurück und bemühten sich, die früheren Streitereien  zu vergessen. Der neue Friede gewährte aber nur wenige Monate. Während der Gerichtsverhandlung im Herbst 1902 berichtete der ermittelnde Polizeisergeant, dass „Frau Courth die ganze Wirtschaft vernachlässigt habe und es auf dem Gut drunter und drüber ging“. Viele der gekauften Sachen, so die amtliche Beschreibung, ließ sie verderben. Außerdem behandele sie ihren Mann abstoßend, während sie sich mit dem Personal auf freundschaftlichen Fuß stellte. Aus den Prozessakten ist nicht ersichtlich, ob Frau Courth denn „für die ganze Wirtschaft“ zuständig gewesen sei, doch wohl eher für die Führung des Haushalts, nicht aber für die Leitung des Gutes mit den vielfachen Aufgaben in Feld, Wald, Flur sowie in den Ställen und Scheunen. Von der Verantwortlichkeit des Mannes ist in den Prozessakten nicht die Rede. Den zog es offenbar immer mehr in die naheliegenden, ausgedehnten Wälder, um seiner Jagdleidenschaft nachzugehen. Und wie alles Unglück oft seinen Ursprung in Kleinigkeiten hat, wie ein Streit mit der Ehefrau, und sich dann zu einer Katastrophe entwickelt, so war es auch im Fall der Eheleute Margarethe und Johann Ludwig Courth. Er ergab sich dem Trunke, sie flüchtete sich in die Arme des 26-jährigen Gutsverwalters Eduard Anderka. Durch mehrere Unglücke in den Viehställen stellten sich erhebliche finanzielle Verluste ein, das ursprüngliche Barvermögen des Pächters Courth in Höhe von 146.000 Mark, Erbe seines Vaters, war schnell verbraucht. Die Nerven lagen blank. Hinzu kam im Sommer 1902 eine Missernte als Folge eines nassen und kalten Jahres. Im August gingen extreme Regenfälle nieder, ein Dauerregen ließ das Heu auf den Wiesen verfaulen und die Frucht auf den Halmen verkümmern, der Ausfall an Roggen, Weizen, Hafer und Kartoffeln war enorm. Als Folge der außergewöhnlichen Regenfälle trat die Sieg über ihre Ufer und überschwemmte die tiefer gelegenen Ländereien von Haus zur Mühlen.

Das war die allgemeine Situation vor dem 20. September 1902, einem Samstag. Zu dem wirtschaftlichen Desaster kamen die ehelichen Probleme. Beide Belastungen konnte Pächter Courth offenbar nur schwer tragen und ertragen, er konnte seine Depression nur schwer beherrschen. Eine Woche vor der  Tat vertraute er sich seinem Kutscher an mit den Worten: „Hier sitzt es, hier sticht es wie ein Dolch“ und zeigte auf sein Herz. Ob er an dem verhängnisvollen Morgen seine Frau oder den Verwalter suchte, hat er im Prozess nicht ausgesagt, jedenfalls überraschte Courth gegen fünf Uhr in der Frühe seine Ehefrau im Schlafzimmer seines Verwalters Eduard Anderka. Ohne ein Wort zu sagen, verließ er den Raum, trank in der Küche eine Flasche Bier und ging dann wieder zurück in das besagte Zimmer. Seine Frau war aber nicht mehr dort. Courth erregte sich immer mehr, ging suchend durch das Haus, nahm seine Flinte aus dem Schrank und ging aufs nahe gelegene Feld. Unterwegs traf er einen Knecht: „Ich bin ärmer, als der ärmste Tagelöhner, trotz all meinem Geld“ sagte er ihm. Er, der Verwalter eines großen Gutes und Herr über etwa 30 Mägde und Knechte, fühlte sich allein gelassen, hatte keine Freunde, keine Vertrauten, eine untreue Ehefrau, die eine Liebschaft mit seinem engsten Mitarbeiter begonnen hatte und so dreist war, dieses Verhältnis in Räumlichkeiten, die ihrem Ehemann offenbar leicht zugänglich waren, zu pflegen.  Diese Beschreibung seiner Situation ist wichtig, um später die Urteilsfindung über den Doppelmord verstehen zu wollen. Verwalter Courth stürmte also auf den nahe gelegenen Acker und gab aus seinem Gewehr einen Schuss ab, ziellos. Wie ist dieses Verhalten zu werten? Wollte er sich selbst töten, verließ ihn in letzter Sekunde der Mut dazu? Oder wollte er durch den Knall seine Anspannung lösen, die Nerven beruhigen, die Kräfte wieder sammeln? Der Schuss in den trüben Himmel bewirkte jedenfalls, dass der betrogene Ehemann nach seiner Rückkehr in seine Wohnung die Muße fand, einen kurzen Brief an seinen Bruder zu schreiben, mit dem er ihn bat, ihn zu besuchen, weil er Vieles mit ihm zu besprechen habe. Also war die erste Wut über die Offenbarung des Liebesverhältnisses seiner Frau mit dem Verwalter schon überwunden. Doch es kam anders!  Denn in der Küche begegnete er seiner Frau, es kam zu einem scharfen Wortwechsel. Die Erregung des Verwalters steigerte sich wieder, er raste durch das Gebäude, nahm wieder das Gewehr, einen Doppellader, zur Hand, lud es mit „Rehposten“, wie der grobe Schrot damals genannt wurde, um, wie er später vor Gericht aussagte, auf die Jagd zu gehen. Er befahl einem Dienstmädchen, sämtliche Zimmer abzuschließen und forderte sie auf: „Sage dem Kerl (also dem Verwalter), dass er zu mir herunter kommen soll“. Der ließ sich aber zunächst nicht blicken. Courth ließ ihn noch einmal rufen. Als nun der Liebhaber seiner Frau ins Zimmer trat, stellte Court ihn zu Rede. Gleich darauf krachte ein Schuss. Die Schrotladung traf den Verwalter im Brustbereich, sein rechter Arm, so der Kreisarzt später, war völlig zerschmettert, aber er war nicht sofort tot, sondern konnte noch um Hilfe rufen und in den Hof laufen. Nach etwa 50 Schritten brach Eduard Anderka, 26 Jahre alt, zusammen. Einige Knechte eilten ihm zu Hilfe und trugen den Schwerverletzten in den Pferdestall, wo sie ihn auf das Bett eines Knechtes legten. Helfen konnten sie ihm nicht mehr. Der Verwalter starb nach einer Viertelstunde. Pächter Courth, der Todesschütze, war inzwischen aus dem Zimmer des Verwalters in die nebenan liegende Küche gegangen. Seine Frau suchte sich hinter der Haushälterin zu verbergen. Ihr Mann riss die Mitarbeiterin aber zu Seite und schoss auf seine wehrlose Ehefrau aus unmittelbarer Nähe in die Brust, der Schuss wirkte tödlich. Die Wirtschafterin, die ebenfalls in größter Gefahr war, blieb unverletzt. Als Courth seine Frau tot auf dem Küchenboden liegen sah, sagte er aufatmend und wie befreit: „So“. Dann rief er seine Knechte zusammen und sagte ihnen, dass er seine Frau und seinen Verwalter erschossen habe. Einen seiner Knechte befahl er, nach Siegburg zu fahren und der Polizei dort die Tat zu melden. Er werde in seinen Räumlichkeiten auf das Eintreffen der Polizeibeamten warten. Dann ließ Courth durch andere Knechte die Leiche seiner Frau in das Zimmer des Verwalters bringen und das Blut auf den Fußböden abwaschen.

Der nach Siegburg entsandte Bote war mittlerweile in der Polizeistation eingetroffen und informierte Oberwachtmeister Ziegler über das grausige Geschehen. Dieser benachrichtigte den Arzt Dr. Klein und fuhr mit ihm zum Tatort. Unterwegs nahmen sie als Verstärkung zwei weitere Polizeibeamte mit auf. Alle Polizisten waren bewaffnet, man wusste ja mit Allem rechnen. Das Kommando aus Siegburg näherte sich vorsichtig dem Gut und stand vor einer heiklen Situation. Alle Bediensteten hatten aus Angst vor weiteren Gewalttaten die Flucht in den nahe gelegenen Wald ergriffen. Vorsichtig durchsuchten die Polizisten die Räumlichkeiten des Gutes, fanden die Leichen und schließlich auch den Täter. Er lag in seinem Bett und schlief. Er war stark betrunken, so die Feststellung von Oberwachtmeister Ziegler. Seiner Verhaftung setzte Courth keinen Widerstand entgegen. Auf die Frage des Polizisten, warum er seine Frau und seinen Verwalter getötet habe, antwortete er: „Die Schweinebande hat mich lange genug geärgert“. Und im Angesicht seiner toten Ehefrau bemerkte er: „Die hat mich Jahre lang betrogen“. Die Zeugen wurden befragt, schnell war der Sachverhalt geklärt. Es gab für die Polizei keinen Zweifel daran, wer die beiden Menschen getötet, dass Courth alleine gehandelt hatte, er nicht bedroht worden war. Der Täter wurde nach Siegburg gebracht und dem dortigen Gefängnis übergeben. Unterwegs wurde er gesprächig und beschrieb das Verhalten seiner Ehefrau so: „Die hatte ein zu dickes Fell, Hiebe gingen da nicht durch“. Ob und wie die Kinder der Eheleute Courth die schreckliche Tat miterlebt haben, ist unbekannt; die Prozessakten sagen dazu nichts aus. Am nächsten Tag, einem Sonntag, zeigte sich Courth bei weiteren Vernehmungen im Gefängnis von einer anderen Seite. Er bereue die Tat, insbesondere wegen seiner Kinder. Wenn er am Samstagmorgen einen Bekannten getroffen hätte, so seine Aussage, und mit ihm eine „erleichternde Aussprache“ hätte führen können, so würde er sich wohl nicht zu der Tat habe hinreißen lassen. An der am selben Tag stattfindenden gerichtsärztlichen Obduktion der Leichen musste Courth teilnehmen. Dabei wurde festgestellt, dass die Frau eine Schrotladung mitten ins Herz getroffen und dies völlig zerrissen habe. Dem Mann war der Knochen des rechten Oberarms zersplittert worden, ein Schrotkorn durch die Lunge ins Herz gelangt. Die weitere Befragung der Mitarbeiter im Haus zur Mühlen ergab, so die Prozessakten, recht gravierende Erkenntnisse bezüglich des sittlichen Verhaltens von Frau Courth. Beide Eheleute seien zudem dem Trunke verfallen gewesen zu sein. Wie intensiv die Beziehungen zwischen der Pächterin und dem Verwalter wohl gewesen waren, bewies ein Ring, den der Verwalter an einem Finger seiner linken Hand trug. Auf der Innenseite waren sein Name und der Mädchenname seiner Geliebten eingraviert. Außerdem wurden gefunden ein goldenes Medaillon und ein Album mit Fotografien der Beiden sowie mehrere Liebesbriefe, darunter auch Briefe mit eindeutigen Liebesbezeugungen eines früheren Verwalters des Gutes. Bedeutsam war auch der Fund einer Dosis Gift in den Räumlichkeiten des Herrn Anderka. Ein Dienstmädchen hatte eine Woche vor der Tat Herrn Courths beim Servieren einer Tasse Kaffee davor gewarnt, ihn zu trinken mit dem Hinweis: „Man hat etwas hineingetan“.

Die beiden Leichen wurden am folgenden Montag in den Abendstunden auf dem Seligenthaler Friedhof bestattet. Heinrich Schmitz, der von 1932 an als Friseur in der Kapellenstraße mehrere Jahrzehnte praktizierte und dessen Familie schon seit langem gute Kontakte zum Haus zur Mühlen pflegte, hatte vom Termin der Beisetzung erfahren und folgte, trotz des strengen Verbots seiner Eltern, dem einfachen Leichenwagen von weitem. Er beobachtete, wie die Leichname außerhalb der Umzäunung des Friedhofs bestattet wurden. Es fanden, so seine Erinnerung, weder das sonst bei Begräbnissen übliche Requiem in der Klosterkirche noch eine Andacht am offenen Grabe statt, der Pfarrer von St. Antonius Seligenthal war nicht anwesend. Auch läutete nicht, so Friseur Schmitz, die Totenglocke.

Am 7. November 1902 fand vor dem Schwurgericht in Bonn das juristische Nachspiel der Familientragödie in Haus zur Mühlen statt. Das Interesse der Öffentlichkeit daran war groß, halb Kaldauen hatte sich auf den Weg nach Bonn gemacht. Der Zuhörerraum war, trotz der Ausgabe von Einlasskarten, überfüllt. Den Vorsitz hatte Landgerichtsrat Magnus. Courths wurde von Justizrat Dr. Eillis verteidigt. Staatsanwalt Reinke klagte den Beschuldigten der vorsätzlichen Tötung an. Während der Verhandlung rief er 22 Zeugen und fünf Sachverständige auf. Auf der Anklagebank verfolgte Johann Ludwig Courth das Geschehen, der auf Befragen die Tat zugab und erläuterte, wie es dazu gekommen war. Er schilderte seinen Lebenslauf, die Konflikte in seiner Ehe, das treulose Verhalten seiner Ehefrau, die Folgen des sich daraus ergebenden starken Alkoholkonsums, das Talent seiner Ehefrau, trotz aller Nachlässigkeiten in der Hauswirtschaft Freundschaften mit dem Personal zu seinem Nachteil zu pflegen. Er sei dadurch zum Einzelkämpfer geworden, ein einsamer Mann trotz seines persönlichen Vermögens. Er, Verwalter eines fürstlichen Gutes, fühlte sich als „gehörnter Ehemann“, das Gespött und heimliche Getuschel seiner Dienerschaft sei nur schwer zu ertragen gewesen. Im Zustand der Volltrunkenheit habe er schließlich zum Gewehr gegriffen und die Beiden erschossen. Medizinalrat Professor Dr. Ungar, der Gerichtsarzt, hatte Courth 14 Tage lang auf seinen Geisteszustand hin untersucht. Er beschrieb den Angeklagten als einen nervösen Menschen. Ein Schädelbruch in früheren Jahren und die dabei erlittene Gehirnerschütterung hätten ihn gegen äußere Einflüsse weniger widerstandsfähig gemacht. Vorausgesetzt, dass die Behauptung des Angeklagten, er habe sich vor und nach der Tag an nichts mehr entsinnen können, auf Wahrheit beruhe, so sei „eine freie Willensbestimmung als völlig ausgeschlossen zu erachten“. Ein späteres Erinnern sei für diese Auffassung ohne Belang. Verminderung der freien Willensbestimmung sei auf jeden Fall anzunehmen. Dieser Beschreibung der psychischen Situation des Angeklagten schloss sich Geheimrat Pelmann, ein weiterer Gutachter, an. Die Gutachten brachten die Staatsanwaltschaft in die Defensive. Für sie war maßgebend das Strafgesetzgesetzbuch des Preußischen Staates von 1851, zu dem das Rheinland seit 1815 (bis 1945) gehörte. War es Mord, so musste Courth zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt werden. Aber war er ein Mörder? Nach § 211 StGB ist ein Mörder, wer aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet. Hat er aus Eifersucht getötet, also aus niedrigen Beweggründen? Oder fühlte er sich berechtigt, als Rächer seiner verletzten Ehre zu töten? Galten für Courth die mildernden Umstände nach § 213 StGB, wonach der Totschläger mit einer Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten bestraft werden muss, weil er durch die schwere Beleidung (Ehegattenbetrug, böser Verstoß gegen das Treueverhältnis des Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber) zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen wurde? Staatsanwalt Reincke wurde unsicher. In seinem Plädoyer bekannte er, dass es ihm angesichts des Ergebnisses der Beweisaufnahme „sehr schwer“ falle, den Antrag auf „schuldig“ zu stellen. Er stellte die Fakten, nämlich die Tötung der beiden Menschen durch den Pächter, keineswegs in Frage. Allerdings verdiene er, so der Vertreter des preußischen Staates, auch Mitleid angesichts des Verhaltens der Getöteten. Aber aus Mitleid die Schuld des Täters zu verneinen, das könne er nicht. Schuld, so zitierte er den Gesetzgeber, müsse gesühnt werden. Man dürfe nicht in die Zeiten der Gesetzlosigkeiten zurückfallen, als noch das Faustrecht galt. Verteidiger Dr. Gillis nutzte die Zweifel des Staatsanwaltes an der Schuldfähigkeit des Täters und legte den Geschworenen nahe, im Zweifel für den Angeklagten zu entscheiden. Mit Erfolg! Denn die Geschworenen sahen bei der abschließenden Befragung durch den Vorsitzenden Richter keine vorsätzliche Tötung, worauf das Gericht den Angeklagten freisprach. Von einer Gefängnisstrafe von mindestens sechs Monaten bei mildernden Umständen, wie es § 213 StGB vorsah, war nicht die Rede. Gutspächter Johann Ludwig Courth verließ das Landgericht als freier Mann. Vor dem Gericht begrüßte ihn eine mehrere hundert Menschen zählende Menge und applaudierte ihm. Eine merkwürdige Situation, aus heutiger Sicht. Aber damals spielten moralische Fragen in Strafverfahren noch eine große Rolle. Die Richter waren gehalten, auch das Verhalten der Opfer zu prüfen. Welchen Anteil hatten sie an der Tat, hatten sie den Täter provoziert, war die Provokation so groß, dass die Tat schließlich begründet war. Sicherlich spielte bei der Urteilsfindung auch eine Rolle, dass Courth der Verwalter eines im Eigentum der Fürsten zu Salm-Horstmar befindlichen Gutes war. Ein Freispruch war wohl ganz im Sinne des westfälischen Fürsten.

Wenn wir heute Lebenden das Urteil vom 7. November 1902 als Skandal, als Beugung des öffentlichen Rechts empfinden, so sei nochmals daran erinnert, dass die Uhren der Gerechtigkeit damals noch anders tickten. Als Beleg dafür wird auf eine Gerichtsverhandlung vor einem Pariser Gericht am 20. Juli 1914 verwiesen, also zwölf Jahre später, im Land der Aufklärung und der Säkularisation. Angeklagt war die Ehefrau des ehemaligen Regierungschefs Joseph Caillaux, die drei Monate zuvor Gaston Calmette, den Chefredakteur der Tageszeitung „Le Figaro“ mit sechs Schüssen niedergestreckt hatte. Nach ihrer Ansicht hatte der Journalist eine schäbige Kampagne gegen ihren Ehemann gestartet. Die Frau wollte die Ehre ihres Mannes verteidigen und erschoss den Redakteur in seinem Büro. Sie wurde freigesprochen, weil ihre Beweggründe – Verletzung ihrer Ehre – von den Richtern akzeptiert wurden.

Ulrich Tondar

Dezember 2021v