Als die Sieg noch Kurven hatte

Bild: Der Ausschnitt aus einer amtlichen Vermessungskarte des Jahres 1820 zeigt den damaligen Verlauf der Sieg.

Was könnte die Sieg nicht Alles erzählen, wenn wir ihre Sprache verstehen würden? Schade, denn schon lange bevor sich die ersten Menschen hier ansiedelten und den vicus chaltouva gründeten – der erstmals im Jahre 1071 in einer kaiserlichen Urkunde erwähnt wurde – zog die Sieg schon ihre 155 Kilometer lange Bahn von ihrer Quelle im Siegerland bis zur Mündung in den Rhein bei Mondorf, stets an Kaldauen vorbei. Und in diesen Jahrhunderten hat sich an ihren Ufern viel ereignet. Ihr Name hat keinen Bezug zu Sieg als Triumph, sondern leitet sich vom keltischen Wort „Sikkere“ ab, was so viel bedeutet wie „schneller Fluss“. Seine Quelle, zunächst ein schmales Rinnsal, liegt etwas versteckt in einer Höhe von 603 Metern über Normalhöhennull im Rothaargebirge (Siegerland), in direkter Nachbarschaft der Quellen von Eder und Lahn. Das Gefälle beträgt bis zur Einmündung in den Rhein 558 Meter, das mittlere Gefälle beträgt 0,15 Prozent; pro Sekunde fließen durchschnittlich 53 Kubikmeter Wasser in den Rhein. Ab 1850 wurde der Mittellauf der Sieg stark reguliert. Anlass für die Begradigungen war – unabhängig von den Bemühungen zur Verhinderung von weiteren Überflutungen der Äcker, Wiesen und Gärten sowie Gebäudeschäden bei den häufig auftretenden Hochwassern mit den damit verbundenen existentiellen Problemen der Bevölkerung – insbesondere das sich damals ausbreitende Schienennetz der Eisenbahn. Für den Bau der Strecke Köln – Gießen durch das Siegtal mussten zahlreiche Brücken über die Sieg gebaut werden, und dafür war die Überbrückung einer regulierten Sieg mit einem engen Bett sicherlich einfacher und kostengünstiger als die Überquerung eines Flusses mit mehreren Seitenarmen. Für die Begradigung sprachen aber auch gesundheitliche Gründe. Die zahlreichen Teiche, Weiher und Sümpfe rund um Siegburg waren die Ursache des zu dieser Zeit immer wieder auftretenden „Wechselfiebers“. 1848 starteten die Maschinenweberei und Kattunfabrik in Siegburg und der Eigentümer von Haus zur Mühlen eine Initiative zur Trockenlegung der Gewässer mit dem Ziel, den ständig hohen Krankenstand ihrer Mitarbeiter zu reduzieren. Erst 1960 konnte die Malaria durch die Verlandung von Altarmen in Deutschland ausgerottet werden.

Fast jedes Jahr kam und kommt es zu Hochwassern an der Sieg, bei denen der Pegelstand von 0,5 Meter auf bis zu vier Meter und sogar darüber steigt. Zu katastrophalen Zuständen führte zum Beispiel das Hochwasser des Jahres 1909, durch das ein Mensch zu Tode kam und viele Brücken weggerissen wurden. In den Jahren  1970, 1994, 2011 und 2015  wurde am Pegel Kaldauen ein Hochwasser von 499, 490, 486 und 467 Zentimeter gemessen. In den amtlichen Aufzeichnungen sind zudem vermerkt „schweres Hochwasser mit Packeis“ im Jahre 1662, 1775 eine „schwere Flut“, 1809 und 1889 „dickes Eis mit meterhohen Schollen“.

Heute wird die Sieg gerne von Freizeitsportlern in Anspruch genommen. Vor einigen Jahrhunderten diente sie eher gewerblichen Zwecken, wie dem Flößen von Holz und dem Transport von Waren aller Art. Die Kähne hatten eine Tragfähigkeit bis zu 200 Zentner. Die Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzende Industrialisierung hatte böse Folgen für die Sieg, die bis dahin als einer der fischreichsten Flüsse Deutschlands galt. Für mehrere große Fischsterben wird die Firma Krages (Etzbach) verantwortlich gemacht. Inzwischen hat sich die Sieg – auch dank des großen Engagements des Siegburger Fischschutzvereins – wieder zu einem sauberen Fluss mit einer gesunden Fischpopulation entwickelt. Allerdings macht den Fischen nun der Klimawandel zu schaffen. Unter der anhaltenden Trockenheit und Hitze in den Jahren 2018 bis 2020 und den damit verbundenen Niedrigständen litt die Wasserqualität sehr, nur ganz wenige Lachse zum Beispiel fanden den Weg siegaufwärts zu ihren Laichplätzen.

Die Sieg wurde im Rahmen des Europäischen Ökologischen Schutzsystems „Natura 2000“ als besonderes Schutzgebiet ausgewiesen. Die Nutzung des Flusses mit Kanus, Kajaks, Schlauch- und Ruderbooten ist reglementiert. So ist es nicht mehr gestattet, die Sieg zu befahren, wenn der Wasserstand nicht ausreichend ist. Der Pegel in Betzdorf muss mindestens 55 Zentimeter anzeigen, der in Eitorf 30 cm. Flöße, Modellschiffe etc. sind generell von der Nutzung der Sieg ausgeschlossen. Das Betreten der Uferregionen und das Baden sind nicht überall erlaubt.

Einen Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde als unmögliche Flaschenpost erhielt 1998 im Übrigen eine Weinflasche, die 1993 von Christine Klinkhammer als Flaschenpost bei Hennef in die Sieg geworfen und 1996 in Falmouth (Maine, USA) angeschwemmt wurde.

Bis zum Jahre 1935 konnten Menschen, die zum anderen Ufer der Sieg wechseln wollten, zur Überfahrt einen mit einer Kurbel betriebenen Nachen gegen ein kleines Entgelt in Anspruch nehmen. Heute erinnert daran nur noch ein vor sich hin rostendes Eisengestell in unmittelbarer Nähe des Kaldauer Pegelhäuschens. Als der Fährbetrieb eingestellt wurde, brachen die Betreiber der Fähre ihr am Siegufer gelegenes Wohnhaus ab und richteten es an der Marienstraße in der Kaldauer Ortsmitte wieder neu auf. Apropos Pegelhäuschen: Das kleine Gebäude aus roten Ziegelsteinen dient in erster Linie dazu, frühzeitig verlässliche Daten für ein drohendes Hochwasser der staatlichen Wasseraufsichtsbehörde bei der Bezirksregierung in Köln zu melden.

 Mit der Regulierung der Sieg veränderte sich auch völlig die Situation im Kaldauer Feld. Wie dem abgebildeten Lageplan entnommen werden kann, knickte bis dahin der Fluss in Höhe der heutigen Kleingartenanlage rechtwinklig nach Haus zur Mühlen ab, verlief von dort etwa 200 Meter in Richtung heutige Autobahn, um dann wieder rechtwinklig, allerdings nach links, etwa 200 Meter in Richtung heutiges Flussbett zu fließen. Diese Achterbahn wiederholte sich bis zu den Wolsbergen noch einmal. Bis zur Begradigung der Sieg gab es weder die Wahnbachtalstraße noch die Autobahn, so dass der Fluss viel mehr Gelegenheiten als heute hatte, sich auszubreiten. Beachtenswert ist im Übrigen, dass der Damm der 1927 fertiggestellten Wahnbachtalstraße keine Funktion zur Abwendung einer Überflutung der Äcker und Weiden im Kaldauer Feld bei Hochwasser hat. Die Straßenbautechnik hat damals, sicherlich aus finanziellen Gründen, den Wasserschutz außen vor gelassen. Was die mäandernde Wasserführung für den landwirtschaftlichen Betrieb von Haus zur Mühlen und die Kaldauer Kleinbauern für Folgen hatte, kann man sich denken. Immer wieder wurden ihre Äcker und Wiesen überspült, selbst bei kleinsten Pegelanstiegen. Ein Ende dieser Plage trat erst ein, als ab 1860 die politisch Verantwortlichen mit den Arbeiten zur Regulierung der Sieg begannen. Die Altarme zwischen der jetzigen Wahnbachtalstraße und dem Fluss sowie die Teiche in der Nähe des ehemaligen Rittergutes sind geblieben. Das Aufsteigen des Grundwassers im Kaldauer Feld muss aber nach wie vor hingenommen werden. Noch nicht entschieden ist über die Absicht des Landes Nordrhein-Westfalen, den zur Autobahn gelegenen Teil des Kaldauer Feldes als Retentionsfläche (Überflutungsfläche) der Sieg auszuweisen. Gegen diese Überlegung haben sich die Bewohner des Neubaugebietes im Bereich der Straße Am Abtshof vor Jahren kräftig gewehrt. Offenbar mit Erfolg. Denn die ursprüngliche Planung, die Wahnbachtalstraße mit drei Öffnungen zu versehen, um das Hochwasser auf die Flächen der anderen Straßenseite fließen zu lassen, wird nicht weiter verfolgt. Die Experten der staatlichen Wasseraufsicht haben nämlich festgestellt, dass das Hochwasser sich unmittelbar vor der Autobahnbrücke selbständig, also ohne technische Hilfe des Menschen, einen Weg in das ehemalige Flussbett und darüber hinaus sucht. Im Jahre 1999 wurde durch die Bezirksregierung in Köln ein Überschwemmungsgebiet festgelegt mit dem Ziel des Erhalts natürlicher Rückhalteflächen, Regelung des Hochwasserabflusses, dem Erhalt und die Verbesserung der ökologischen Strukturen, der Verhinderung emissionsfördernder Eingriffe – zum Beispiel Änderung der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung – und dem Verbot der Lagerung von Materialien.

Nicht vergessen werden darf schließlich die Funktion der Sieg als Transportweg. Holzhändler brachten im heutigen Windeck früher ihr Produkte zur Sieg und transportierten die Eichen als Flöße bis nach Köln und Holland. Bei Siegburg gab es bis 1855/60 einen Holzverladeplatz, deren genaue Lage leider nicht mehr bekannt ist. Vielleicht befand er sich ein Stück vor dem Buisdorfer Wehr, am heutigen Bootshaus, denn das Wehr war ein Hindernis, das die Flöße nicht überwinden konnten. 1666 war ein Floß vom Siegerland bis Köln etwa zehn Tage unterwegs. Keine ungefährliche Angelegenheit, da eine Fahrt ja nur bei Hochwasser gestartet werden konnte. Am Ziel angekommen übernahm der Oberflößmann den Verkauf des Holzes nach Klaftern, ein Klaffter umfasste drei bis vier Kubikmeter. Ähnlich erging es den Töpfern vom Lendersberg, die ihre Waren ja auch verkaufen wollten. Ihre Kunden lebten nicht in Siegburg oder Troisdorf, sondern eher im einkaufsstarken Köln. Auch die Bergleute, die von Seligenthal bis nach Siegen das Erz aus den Bergen holten, waren auf die Sieg als Transportweg angewiesen, wie auch die Landwirte, die die Früchte des Feldes gerne an ihre Kunden in Bonn oder Köln verkauften. Erinnert sei auch an die Aktivitäten der Köhler, die damals die sehr wertvolle Holzkohle den betuchten Kölnern zum Kauf anboten.

Vorsorge für den Katastrophenfall

Zu den Aufgaben einer für den Bürger sorgenden Stadt gehört auch die umweltgerechte Ableitung des Schmutz- und Regenwassers. Dazu bedient man sich bekanntlich eines unterirdischen Kanalsystems. Entsprechend der Anwohnerzahl sind die Rohre unterschiedlich dimensioniert. Und deshalb ist es verständlich, dass die Kanalrohre, je mehr Straßen und Häuser angeschlossen sind, immer größer werden. Aber sie können nicht so groß sein, dass sie allen Herausforderungen, die das Wetter schon mal für uns bereithält, gewachsen sind. Die Ableitung des Schmutzwassers ist kein Problem, das bleibt sich von der Menge her immer gleich. Nur wenn lang anhaltender Regen oder Starkregen in die Kanäle drängt, wird es kritisch. Dann muss Sorge dafür getroffen werden, dass die letztlich in das Klärwerk Menden fließenden Wassermassen sich nicht im Kanalnetz stauen und schließlich in die Keller der Häuser im unteren Teil von Kaldauen dringen. Deshalb hat die Stadt Siegburg vor etwa 30 Jahren mit der Planung eines Regenrückhaltebeckens begonnen, das wegen seiner Ausmaße – es sollte ein Gebäude von mehreren Metern Höhe werden – nach langem Hin und Her an der Abzweigung eines Wirtschaftsweges von der Wahnbachtalstraße (Nähe Einmündung Am Abtshof) verwirklicht wurde. Es wurde schließlich unterirdisch angelegt, und zwar nicht als Becken, sondern in der Form groß dimensionierter Kanalrohre, die an der Straße Müschbungert beginnen und in dem nun als Abschlagwerk bezeichneten Bauwerk enden. Dieses Kanalsystem bietet einen 2.000 Kubikmeter großen Stauraum. Hier wird also das Wasser nach starkem Regenfall gesammelt, bis es nach Beruhigung der Wetterlage wieder in das Kanalsystem abgelassen werden kann. Ist das Regenrückhaltebecken voll und das Kanalsystem nicht wieder aufnahmebereit, dann öffnet sich ein Schieber, der das Regenwasser – aus Gründen des Umweltschutzes nicht das Schmutzwasser! – in die Sieg ableitet. Bei extremen Wetterlagen – also Hochwasser und Starkregen – wird es natürlich problematisch, aber ein solcher Fall ist bislang nicht eingetreten. Das Regenrückhaltebecken verfügt über eine selbständig arbeitende Mechanik, die von selbst reagiert, aber von der Abteilung Wasserwirtschaft der Kreisstadt beobachtet werden kann. Es gibt noch zwei weitere solcher Regenrückhaltebecken in der Stadt, eines auf dem Stallberg mit 3.000 Kubikmetern und ein weiteres auf dem Deichhaus mit 4.000 Kubikmetern Fassungsvermögen. Alles Maßnahmen, um die Innenstadt vor einer Überflutung durch Schmutzwasser im Extremfall zu bewahren.

Ulrich Tondar

Februar 2022