Der Massentod der Zwangsarbeiter

Der 23. März 1945 war ein Freitag, zehn Tage vor Ostern, mitten in der Passionszeit, Sonnenaufgang 6.34 Uhr. Es war, von den Temperaturen her gesehen, ein sehr angenehmer Frühlingstag. Aber er war aber der schrecklichste Tag in der nun 950-jährigen Geschichte Kaldauens. Im Morgengrauen, gegen fünf Uhr, starben infolge eines Beschusses durch eine oder mehrere Granaten der amerikanischen Streitkräfte 19 Menschen auf der Hauptstraße in der Nähe der heutigen Paul-Moog-Straße. Es waren Zwangsarbeiter, deren Namen und Nationalitäten weitgehend unbekannt geblieben sind. Nur zwei können namentlich benannt werden: Amadeo Lonzi aus Castiglone Messer Marino, 20 Jahre alt, und Antonio Fassina aus Mantua, wohl im selben Alter wie Amadeo, beide Italiener.

Zu den vielen Verbrechen, die von den Nationalsozialisten in der Zeit von 1933 bis 1945 begangen wurden, zählte auch ihr Umgang mit Menschen – vorwiegend Männer, aber auch Frauen und Mädchen sowie männliche Jugendliche – , die sie in den von der Wehrmacht besetzten Gebieten gefangen nahmen, sie nach Deutschland brachten und dort den Rüstungsbetrieben – vorwiegend -, aber auch allen anderen Betrieben als Arbeitskräfte übergaben. Mit Kriegsgefangenen allein konnte der durch die Einberufungen zur deutschen Wehrmacht verursachte Mangel an deutschen Arbeitern nicht aufgefangen und der rasant steigende Arbeitskräftebedarf der deutschen Kriegswirtschaft nicht gedeckt werden. Zwischen 1939 und 1945 kamen so mehr als 12 Millionen Frauen und Männer aus allen Teilen Europas in das Deutsche Reich. Die meisten von ihnen kamen aus Polen, Weißrussland und der Ukraine. Sie lebten vorwiegend in schlechten Baracken und Lagern bei vielfach ungenügender Ernährung. Sie sollten, so das teuflische Konzept der braunen Machthaber,  als Material miss- und verbraucht werden. Den Deutschen war es bei Strafe verboten, die Zwangsarbeiter als Menschen zu achten, mit ihnen in Gemeinschaft zu leben. Allein in Siegburg gab es zwischen 1939 und 1945 3.048 Zwangsarbeiter, davon arbeiteten 2.864 bei der Phrix. Darin nicht eingeschlossen sind zehn  Kaldauer Fremdarbeiter, die den hiesigen Landwirten zugewiesen waren.

Kommen wir zurück auf das Schicksal der beiden Italiener Amadeo Lonzi und Antonio Fassina. Sie wurden 1943 von deutschen Truppen in Italien interniert und kamen noch im selben Jahr mit vielen anderen Landsleuten als Zwangsarbeiter zu den Kölner Fordwerken. Nach der Bombardierung dieses kriegswichtigen Betriebes im Februar 1945 wurde die Produktion dort eingestellt und die Fremdarbeiter nicht mehr benötigt. Eine 40 Personen zählende Gruppe wurde in Marsch gesetzt in der Absicht, Panzersperren in Neunkirchen und Much zu errichten. Ständig den Gefahren durch die Tiefflieger der amerikanischen Truppen ausgesetzt, gequält von Hunger, Durst und ständigen Schikanen durch die deutschen Antreiber kamen sie am 23. März 1945 durch Kaldauen. Ihre deutschen Begleiter wollten die Morgendämmerung nutzen, um unbemerkt von den US-Soldaten, die seit dem Vortag schon auf der anderen Siegseite lagen und das Dorf gelegentlich unter Beschuss nahmen, ins Wahnbachtal zu kommen. Ihre Bewegungen wurden aber wahrgenommen und wahrscheinlich von den Amerikanern als eine Truppenbewegung der Deutschen eingeschätzt. Sie eröffneten das Feuer auf die wehrlosen Menschen mit einem fürchterlichen Ergebnis. 18 Frauen und Männer waren sofort tot, ein Schwerverletzter starb in der nahe gelegenen Schule, in die ein Teil der 23 Überlebenden getragen wurden. Den Helfern aus der Nachbarschaft bot sich ein Bild des Grauens. Es fällt einem schwer, die Situation zu beschreiben, was Granaten mit menschlichen Körpern anrichten, wenn sie mitten auf eine Gruppe treffen. Ich will es den Lesern dieses Berichts auch nicht zumuten. Aber seien sie überzeugt, es war fürchterlich. Nachbarn und deutsche Soldaten bargen die Verletzten. Das Haus der Familie Heck, in dessen unmittelbarer Nachbarschaft das Massaker sich ereignete, diente ebenfalls als Lazarett. Wegen der ständigen Bedrohung durch die Amerikaner und deren präzise wirkenden Waffen mussten die Verletzten teils durch die Kellerlöcher ins Haus transportiert werden. Die Menschen schrien vor Schmerzen. Der Geruch von Blut breitete sich im ganzen Haus aus. Es war eine extrem chaotische Situation, die hilfsbereiten Menschen waren überfordert; sie hatten keine fachlichen Kenntnisse, wie schwer verletzten Menschen wirksam geholfen werden kann, keine Medizin, kein Verbandsmaterial, die Nerven lagen blank, und mittendrin die Kinder, die dieses fürchterliche Leid mit ansehen mussten. Eine außergewöhnliche Herausforderung auch für Käthe Heck, die in Abwesenheit ihres an der Front befindlichen Ehemannes in diesen Tagen als Hauseigentümerin die allgemeine Verantwortung für Haus, Hof und Familie trug. Nachbarn brachten Stroh, um Lagerstätten in der Schule und im Haus  Heck herzurichten. Ein deutscher Militärarzt versorgte die Verletzten. Frauen aus der Nachbarschaft brachten ihnen etwas zu Essen. Nach zwei oder drei Tagen wurden sie mit Pferdewagen in das Mucher Krankenhaus transportiert, wo sie weiter behandelt wurden.

Das Martyrium für die überlebenden, nicht schwer verletzten Zwangsarbeiter war mit dem Feuerüberfall in Kaldauen aber nicht beendet. Sie mussten ihren Fußweg über die Wahnbachtalstraße nach Neunkirchen fortsetzen und fanden dort eine Bleibe im Saal der Gaststätte Küpper sowie in einer Scheune der Familie Kraus in der Ortsmitte. Sie mussten sofort mit dem Bau von Panzersperren beginnen. Frauen aus der Nachbarschaft bewahrten sie mit Lebensmitteln, die sie ihnen heimlich brachten, vor dem Verhungern. In der Nacht von Karsamstag auf Ostersonntag, 31. März/1. April 1945, brach über die Zwangsarbeiter im Saal Küpper, die den Überfall in Kaldauen zehn Tage vorher überlebt hatten, und anderer Fremdarbeiter, insgesamt 200, ein weiteres Inferno herein. Um 23.30 Uhr eröffnete eine US-Brigade das Feuer auf den Saal, 120 Granaten sollen das mit Menschen vollgestopfte Gebäude getroffen haben, über fünf Stunden dauerte der Beschuss. Am nächsten Tag wurden in einem Massengrab auf dem benachbarten Friedhof 24 Tote begraben, Franzosen, Italiener und Ukrainer. Ihre  Namen und Nationalitäten  wurden nicht erfasst, Beurkundungen fanden nicht statt. In den letzten Tagen des sogenannten 1.000-jährigen Reiches zählte ein Menschenleben nichts mehr, es wurde nur noch massenweise gestorben. Unter den Toten war auch Amadeo Lonzi, der den Überfall in Kaldauen noch überlebt hatte. Er wurde am 8. Juni 1924 in Castiglone Messer Marino, einem Dorf in den Abruzzen, zur Adria hin gelegen, Mittelitalien, geboren und hatte zwei Schwestern und fünf Brüder. Er wird als scheu, aber intelligent beschrieben. Zum Kriegsdienst wurde er am 25. August 1943 einberufen. Er wurde nur 20 Jahre alt.  Sein Freund Antonio Fassina hatte dagegen Glück und fand seine Heimat wieder. Am 16. Mai 2006 kam sein Onkel nach Neunkirchen und legte am noch bestehenden Grab, das mit einer Grabplatte mit Hinweis auf die Nationalitäten der Toten versehen ist, Blumen nieder.

Eine solche Gedenkstätte wurde  in Kaldauen im Frühjahr 1945 nicht angelegt. Die 19 Toten wurden schnell in einem Massengrab neben der Hauptstraße, rechts gesehen in Richtung Seligenthal, an der Grenze zwischen den Dörfern Kaldauen und Münchshecke, auf einem damals noch unbebauten Grundstück beigesetzt, wobei die damit verbundenen Gefahren ja nicht unbeträchtlich waren. Etwa 400 Meter von dieser Stelle entfernt waren die Stellungen der Amerikaner, sie hatten freie Sicht. Den deutschen Bestattern musste also an einer Feuerpause gelegen sein. Aber wie konnte die vereinbart werden? Eine Funkverbindung oder telefonische Verbindung mit den Amis  bestand ja nicht, die Herstellung eines persönlichen Kontaktes war wegen der zwischen den Fronten verlaufenden Sieg nicht möglich. Wahrscheinlich war es so, dass die Amerikaner die Kaldauer, die ihre Bestattungsabsicht mit einem weißen oder roten Tuch ankündigten, ein oder zwei Stunden in Ruhe ließen, um eine ausreichend große Grube auszuheben, die toten Zwangsarbeiter hineinzulegen, sie mit Kalk zu bestreuen und sie abschließend mit dem Aushub wieder zu bedecken. Von einem Gebet am Grab oder einem Gottesdienst zum Gedenken an die 19 Toten in der Seligenthaler Pfarrkirche ist nichts bekannt. Die Fremden waren zu ihren Lebzeiten wenig geachtetes Arbeitsmaterial, eine christliche Bestattung war in den letzten Kriegstagen mit all den damit verbundenen erheblichen Gefahren nicht möglich.

Die Eigentümer des Grundstücks, auf dem sich das Massengrab befand, beantragten am 22. Dezember 1945 bei der Verwaltung des Amtes Lauthausen mit Sitz in Bröl die Exhumierung der Leichen und ihre Umbettung auf den Friedhof der katholischen Kirchengemeinde in Seligenthal. Damals gehörten die Dörfer Kaldauen, Münchshecke und Seligenthal zur amtsangehörigen Gemeinde Braschoß, die wiederum Teil des Amtes Lauthausen war, das Anfang des 19. Jahrhunderts von den französischen Besatzern gegründet und 1815 von den neuen Machthabern, den Preußen, fortgeführt wurde. Die Amtsverwaltung griff den Vorschlag, den Fremdarbeitern in Seligenthal eine letzte Ruhestätte zu gewähren, jedoch nicht auf, sondern entschied sich dafür, vor dem Ortseingang von Allner, an der Landstraße von Weingartsgasse kommend, linke Seite, einen Ehrenfriedhof für alle Menschen, die auf dem Gebiet des Amtes zwischen 1939 und 1945 durch Kriegshandlungen zu Tode gekommen waren, anzulegen. Es handelte sich um 42 Frauen und Männer. Am 29. November 1945 entschied die Forstverwaltung, aus dem Kaldauer Gemeindewald fünf Festmeter Stammholz für die Herstellung von Särgen freizugeben; das Sägewerk Hafener sollte daraus die Bretter schneiden. Schreinermeister Heinrich Nümm in Lauthausen wurde vom Amtsbürgermeister am 23. Januar 1946 beauftragt, die erforderliche Anzahl von Särgen, nämlich 42, herzustellen, und zwar in den Größen von jeweils 1,90 Meter Länge, 55 cm Breite und 18 cm Höhe, mit jeweils einem Kreuz auf der Oberseite. Das Siegwerk lieferte 45 kg rehbraune Farbe zum Anstreichen der Särge und stellte dafür 100 Mark in Rechnung. Für die Exhumierung der 19 Toten in Kaldauen wurden drei Männer aus Kaldauen (Gebrüder Latz und Herr Stempin) und Herr Hahn aus Seligenthal verpflichtet. Für jeden umzubettenden Leichnam erhielten sie 25 Mark. Außerdem gewährte der Amtsarzt die Zuteilung von je einer Flasche Trinkbranntwein und die Amtsverwaltung  eine Schwerstarbeiterzulage. Zudem mussten sich die Leichenberger impfen lassen, Gummischuhe und entsprechende Handschuhe tragen. Die zehn Tage andauernde Aktion wurde von einem Arzt und von der Polizei überwacht. Die Einweihung des 450 qm großen neuen Ehrenfriedhofs bei Allner fand am 24. März 1946, also genau ein Jahr nach dem schrecklichen Ereignis in Kaldauen statt. Fünf Männer aus Bröl und Allner wurden im Rahmen der aus dem Mittelalter noch stammenden Hand- und Spanndienstpflicht beauftragt, die Gräber am 13. März 1946 auszuheben; dazu mussten sie Spaten und Kreuzhacke von zu Hause mitbringen. Zu dieser Feierstunde hatte Amtsbürgermeister Josef Caspers den Militär-Gouverneur des Siegkreises, Major Morris, der in Siegburg residierte, sowie die örtliche Geistlichkeit und die Männer-Gesang-Vereine  aus Bröl, Allner und Kaldauen mit der Bitte um eine würdige musikalische Gestaltung eingeladen. Der Gemeinschaftschor sang „Da unten ist Frieden“, ein „Sanctus“ und „Wie sie so sanft ruhen“. Eine Schülerin der damaligen Volksschule Bröl sagte das Gedicht „Das Grab“ von Ernst Moritz Arndt, geschrieben im Jahre 1835, auf.

Die Einsegnung der Gräber erfolgte durch Pfarrer Regh, Happerschoß, Pfarrer Reuter aus Hennef sprach zu den Teilnehmern. Seine Predigt schloss er mit einem Gebet „für die Dahingeschiedenen“ ab. Insgesamt 103 Frauen und Männer waren persönlich eingeladen worden, außerdem die gesamte Einwohnerschaft des Amtes Lauthausen gemäß öffentlicher Bekanntmachung, außerdem die Redaktionen von drei Zeitungen sowie der Fotograf Herber. Beigesetzt auf dem Ehrenfriedhof wurden  Soldaten in 23 Einzelgräbern sowie die anonym gebliebenen Toten in zwei Sammelgräbern. Der Bürgermeister legte zwei Kränze nieder mit der Aufschrift: „Ruhet in Frieden ihr Toten der Vereinten Nationen – Amt Lauthausen“ – damit waren die Zwangsarbeiter gemeint – und „Ruhet in Frieden ihr Deutschen Soldaten – Amt Lauthausen“. Mit der gleichzeitigen Beisetzung der Soldaten und der Zivilisten auf demselben Friedhof erfuhren die Zwangsarbeiter eine späte Anerkennung ihrer menschlichen Würde; im Tod waren sie jetzt nicht mehr Menschen zweiter Klasse. Ihre Namen, ihr Lebensalter und ihre Heimat ließen sich allerdings nicht mehr ermitteln. Die Kosten für die Anlegung des Ehrenfriedhofs in Höhe von 6.000 Reichsmark wurden durch Spenden gedeckt.

Offenbar geriet die Ruhestätte schnell in Vergessenheit. Im Mai 1949 stellte die Amtsverwaltung Lauthausen in einem Schreiben an den Volksbund Deutscher Kriegsgräberfürsorge fest: „Der Ehrenfriedhof ist ein verwahrloster Totenacker“. Aber da waren die Vorbereitungen für eine weitere Umbettung schon im Gange. Am 21. Oktober 1949 beauftragte der Volksbund den Gartenarchitekten Fritz Gerhartz aus Rheinbach, die Gebeine von Allner auf den 1949 angelegten Soldatenfriedhof in Ittenbach umzubetten. Am 18. November 1949 war die Aktion abgeschlossen. Seitdem ruhen die 19 in Kaldauen getöteten Zwangsarbeiter und die während des zweiten Weltkrieges im Gebiet des Amtes Lauthausen zu Tode gekommenen Soldaten gemeinsam mit 1827 Kriegstoten des zweiten Weltkrieges auf der Kriegsgräberstätte Ittenbach, eine vom Volksbund aufmerksam gepflegte Anlage. Hier sind sie Alle gleich, die 1.626 Deutschen, die 224 Toten aus der ehemaligen Sowjetunion, die zwei Belgier, die zwei Franzosen, die vier Niederländer und ein Italiener. Jedes Jahr findet am Volkstrauertag hier eine öffentliche Veranstaltung statt, durch die die Toten geehrt werden und das Gedenken an sie wachgehalten wird, auch die Erinnerung an die in Kaldauen zu Tode gekommenen Zwangsarbeiter und die in Kaldauen gefallenen deutschen Soldaten, die nicht durch eine Umbettung wieder nach Hause kamen. Erstmals hat am 16. Juni 2020 auf Initiative des Ökumenischen Gesprächskreises Kaldauen eine Gedenkstunde in Ittenbach stattgefunden. Apropos Umbettung: Nach dem Ende des Krieges am 8. Mai 1945 begann – wie überall – auch im Lauthausen eine die Behörden sehr herausfordernde Suche nach Vermissten und Toten, aber auch nach Angehörigen der hier gefundenen Leichen. Zahlreiche Leichname, gerade bestattet, wurden wieder ausgegraben und in die Heimat geholt. Amtsbürgermeister Caspers musste manche Hoffnung auf ein Lebenszeichen eines Vermissten negativ beantworten. Im Amt Lauthausen wurden insgesamt 77 Leichen umgebettet, davon waren 33 Soldaten der deutschen Wehrmacht, 44 aus unterschiedlichen Nationen. In den örtlichen Schreinereien herrschte zur Herstellung der Särge Hochbetrieb. In Braschoß wurde noch im September 1945 die Leiche eines Soldaten bei Aufräumarbeiten gefunden.

Kommen wir noch einmal zurück auf die Situation der Zwangsarbeiter hier in Kaldauen. Es waren insgesamt zehn. Sie waren mehreren Landwirtsfamilien zugeteilt, weil die jeweiligen Ehemänner beziehungsweise Väter zum Heer eingezogen waren. Eine Ausnahme machte die Familie Josef Huhn; hier arbeitete ein aus Russland stammender Fremdarbeiter, weil der Bauer  beim Umgang mit seinen beiden Pferden zu Tode gekommen war. In der Familie Franz Huhn arbeitete ein Pole (et Pitterchen), in der Familie Albert Haas ein Holländer und eine Russin mit Namen Tara, in der Familie Baldus eine Italienerin und eine Französin. Und in der Bauernschaft von Wilhelm Braun bewährte sich der Pole Ignatz Koteschewski. Er lebte entgegen den strengen Regeln der Nazis im Haushalt der Familie Braun wie ein Familienmitglied. So war es für Thea Braun (geborene Steinrötter) selbstverständlich, dass er mit am Mittagstisch saß. Kam ein Fremder ins Haus, musste er allerdings mit seinem Teller schnell den Platz wechseln. Er schlief mit im Haus und wenn Ehemann Wilhelm Braun im Urlaub von der Front nach Hause kam, musste Sohn Hermann-Josef schon mal mit im Bett des stets froh gesinnten Ignatz übernachten. In der Familie des Landwirts Heinrich Weiser lebten drei Russen (Anton, Tamara und Katscha), die zuvor bei der Phrix eingesetzt waren. Tamara starb am 10. April 1945 an einer schweren Verletzung auf Grund eines Granatsplitters im Siegburger Krankenhaus. Einige Wochen vorher waren die Drei zu einem Verhör bei der Gestapo in Köln vorgeladen und wurden zum Verhalten ihres Hausherrn befragt („Hört er Feindsender?“). Sie verrieten ihn aber nicht. Heinrich Weiser kam nach mehreren Wochen Haft wieder frei. Zu Gewalttaten durch Fremdarbeiter nach dem 8. Mai 1945, wie zum Beispiel im benachbarten Lohmar – wo marodierende Gruppen  insgesamt fünf Männer umbrachten, drei davon  erst am 25. Juli 1945 – kam es in Kaldauen nicht. Im Unterschied zu Lohmar, wo die Fremdarbeiter unter „unsäglichen Quälereien untergebracht waren“ – so Gerd Streichard vom Heimat- und Geschichtsverein Lohmar – , wurden die Kaldauen Zwangsarbeiter offenbar durchweg human behandelt.

Wie bereits erwähnt, lebten während des zweiten Weltkrieges über 3.000 Zwangsarbeiter in Siegburg, davon arbeiteten mehr als 2.800 bei der Phrix.  Als deren Werkstätten am 9. März 1945 den Bomben zum Opfer fielen und ihre äußerst bescheidenen Unterkünfte dort zerstört wurden, waren diese Menschen vogelfrei. Wohin sollten sie gehen, wenn sich nicht die SS, die deutsche Wehrmacht und die Stadtverwaltung um sie kümmerten? Wo sollten sie hin, wer bot ihnen Schutz und gab ihnen zu essen ? Einige setzten sich in das nahe gelegene Kaldauen ab. So fanden mehrere  auf dem Anwesen der Familie Thea Braun Unterschlupf. Die Bäuerin ließ in der Scheune für sie einige Bettgestelle zusammenzimmern. Ihr Aufenthalt dort war aber nicht von langer Dauer. Eines Tages tauchten Mitglieder der SS auf und vertrieben die Leute. Wohin, das lässt sich nicht mehr eruieren. Die Familie Hochgeschurz beherbergte einige Tage zwei Fremdarbeiterinnen, die zuvor bei der Phrix gearbeitet hatten, in ihrem Hause an der heutigen Wiesenstraße. Viele Zwangsarbeiter nutzten das allgemeine Chaos zum Ende des Krieges, um nach Hause zurückkehren zu können. Oft führte ihr Weg in eine neue Hölle. Die kommunistische Sowjetunion nahm ihre Bürger meist nicht mit offenen Armen auf, sondern behandelte sie wie Kollaborateure, sie kamen vom Regen in die Traufe, nämlich in russische Zwangslager.

An den Tod der 19 Zwangsarbeiter sowie das Schicksal aller anderen nach Deutschland Verschleppten erinnert eine Gedenktafel, die am 14. Oktober 2021 in der Nähe der Unglücksstätte aufgestellt wurde.

Ulrich Tondar